Hans Schäfers Kind- und Jugendzeit erinnern stark an die traumatischen Erlebnisse   von Anna Wimschneider (Buch und Film: Herbstmilch), als sie mit 8 Jahren bereits Halbwaise war und die Familie versorgen musste. 

Frühe Jahre des Hans Schäfer

  

Mein Vater, Johann Adam Schäfer, Schumachermeister, katholisch, im Jahre 1869 geboren, musste mit zwei Arbeitsschichten in der einen als Handwerksmeister bei Tage, in der anderen als Staatsdiener bei Nacht, das Geld verdienen, was sein 10-Personenhaushalt zum Leben haben musste. Kinder brachte er als Witwer mit in seine zweite Ehe und nie kam er in den Genuß eines Urlaubs. Auch seinen Geburts- und Heimatort zu besuchen blieb ein Wunschtraum.

Ich bin am 5.10.1906 geboren, habe ähnliche Erinnerungen. Meinen ersten Urlaub von 3 Tagen erlebte ich mit 18 Jahren. In der Schreinerei wo ich lernte, musste ich mir meinen 1. Urlaub hart erkämpfen. Nachdem einmal die Gewerkschaft den Betrieb aufsuchte und ich mitbekam, welche Rechte mir zustehen, lehnte ich mich gegen meinen strengen, zwanghaften Lehrherrn auf. Ich wurde von ihm als Rebell behandelt, und die eine oder andere Ohrfeige einstecken. Trotzdem blieb ich standhaft.

Mein erstes Fahrrad, ein Gebrauchtes, konnte ich mit 21 Jahren erwerben

Mit dem Jahr 1912, der ein Wendepunkt für mich war, will ich nunmehr beginnen.
Wir waren schon eine Großfamilie, drei Buben und zwei Mädchen als meine Tante uns besuchte. Ich war 6 Jahre alt und ging schon in die Schule. Wir Kinder spielten unter dem brennenden Christbaum am Boden. Meine Mutter und Tante Franziska unterhielten sich über mich, wie ich mitbekam. Die Tante wollte meine ältere Schwester Rosa zu sich nehmen und Mutter erklärte ihr, dass das aus ärztlichen Gründen nicht sein könne. Es käme nur ich in Frage, weil die anderen noch zu klein seien. Prüfend schaute mich die Tante an und ich hatte das Gefühl, dass sie darüber nicht begeistert war. Einen Tag später reiste sie mit mir ab.

An den Abschied vom Elterhaus kann ich mich nicht erinnern, an die Reise sehr gut. Für mich war das ein Erlebnis, mit dem Zug durch die Winterlandschaft zu fahren. Die Tante redete wenig mit mir. Ich verstand auch nicht, was es zu bedeuten hatte, als sie sagte: „wieder so ein Mannsbild ins Haus, ob das gut geht?“ Der Sinn dieser Worte wurde mir erst später klar. Am späten Nachmittag erreichten wir den Zielbahnhof und gingen zu Fuß weiter. Die Tante voran, ich hinterdrein, zwei Stunden über Wälder und Flure. Geredet hat sie mit mir nichts, nur manchmal umgeschaut, ob ich schön ihren Spuren folge.

Bei Eintritt der Dunkelheit waren wir am Ziel. Es war ein alleinstehendes Holzhaus nahe am Wald und es gefiel mir gut. Ein altes kleines Mütterchen empfing uns, es war meine Großmutter. In der Stube war es schön warm und es roch nach Milch und Kartoffeln. Ich aß wenig, war sehr müde von der Reise. Die „Franzi“, wie die Großmutter sie nannte, erzählte von ihren Erlebnissen und warum sie mich den „Hanse“, statt der gewünschten „Rosl“ mitgebracht habe. Ich bin dabei eingeschlafen.

Die Großmutter führte mich über eine schmale Treppe nach oben in eine kleine Kammer und brachte mich ins Bett, das mit einem heißen Ziegelstein vorgewärmt war. Das Bett war auch klein, hatte aber einen hochgefüllten Strohsack unten, und ein schweres Federbett als Zudecke. Ein Nachtkasterl mit einem Nachttopf stand nebenan unter einem kleinen Fenster. Das war alles im Raum. Mehr hätte auch nicht Platz gehabt. Ein kleines Kreuz hing über dem Bett. Die Großmutter, zu der ich gleich Vertrauen hatte, wünschte mir ein gute Nacht und damit war ich allein, und es war dunkel im Raum. Das war der 1. Feiertag nach Weihnachten.

Es war noch dunkel als die Großmutter mich weckte. Unten in der Stube war es warm. Über dem Tisch brannte eine Öllampe. Ein Brunnen zum Waschen war nicht vorhanden. Das „Klo“ war ein Häusl am Ende der Scheune und nur außer dem Hause erreichbar. Ein „Plumpsklo“ wie wir es heute bezeichnen würden. Zum Frühstück gab es ein Stück trockenes Brot und eine saure Milchsuppe, mit der ich mich nicht anfreunden konnte. An die musst Du dich gewöhnen, sagte die Tante, Kaffee und frische Semmeln gibt es hier bei uns nicht.

Die Feiertage waren vorbei. Meine Tante ging mit mir nach Feilnbach um mich zur Schule zu bringen. „Paß gut auf den Weg auf, den musst Du in Zukunft allein gehen.“
Das war für mich eine halbe Stunde hin und eine halbe Stunde zurück, bei jedem Wetter.

Die Schulzeit war von 8 bis 2 Uhr, also 6 Stunden, mit einer Stunde Mittagspause von 11 bis 12 Uhr, die nur von ortsansässigen Schülern zum Mittagessen bei der Mutter ausreichte. Alle anderen mussten mit einem mitgebrachten Pausenbrot ihren Hunger stillen. In der Schule war ich ein Fremdkörper, der alle neugierig machte. Ich war anders gekleidet, sprach anders, war ein Stadtbub. In der Schule waren alle Kinder in einem Raum, Mädchen und Buben zusammen. Ein älterer Lehrer mit Bart und einen „Zwicker“ auf der Nase, wohnte über dem Klassenzimmer und war sehr streng. Bei Bedarf gab es auch die Prügelstrafe.

Mit sechs Jahren gewöhnt man sich schnell an neue Umstände. Ich wurde ein Waldbauernbub, mit allem was dazugehört. Die zwei Frauen, besonders die Tante, waren meine Erzieher und hatten es wahrscheinlich nicht immer leicht. Ich aber auch nicht mit der Tante, die immer etwas bei mir auszusetzen hatte. Ich ging ihr darum aus dem Wege, wo es möglich war.

Ein Jahr war ich nun schon da und es wurde Weihnachten. Das erste das ich hier feiern werde. Meine Neugier und Erwartung war groß. An das Märchen vom Christkindl glaubte ich schon lange nicht mehr. Meine älteren Schulkameraden hatten mich darüber schon aufgeklärt. Aber wie das zu Hause war, das war mir noch in guter Erinnerung….

Die Landschaft war tief verschneit. Ich wartete auf das Christkindl als es dunkel wurde, aber es tat sich nichts. Kein Christbaum, kein Weihnachtsgebäck, einfach gar nichts. Die Tante sagte: Du gehst mit mir in die „Mette“, ich wecke Dich wenn es Zeit ist. Hier kommt das Christkindl also erst nachher, dachte ich.

Kurz vor Mitternacht machten wir zwei uns auf den Weg mit einer Stall-Laterne. Die Großmutter musste das Haus hüten und die Mettensuppe kochen bis wir zurückkommen. Es war eine sternenklare Nacht. So einen Sternenhimmel um Mitternacht hatte ich noch nie gesehen und so kam es, dass ich vor lauter Sterngucken im Straßengraben im tiefen Schnee landete und dabei meine Laterne erlosch. Das war für die Tante nun ein Grund mich zu beschimpfen, als ein talkerter Stadtbub der auf sich nicht aufpassen könne. Solches „greinen“ war ich von ihr schon gewöhnt und konnte mir meine Christkindlerwartung nicht verderben.

Wir näherten uns schon dem Kirchdorf und aus allen Richtungen tauchten Lichter auf. Das gab mir Rätsel auf, wer von meinen Schulkameraden das sein könnten. Als wir dann die Kirche betraten und ich die vielen brennenden Kerzen sah und die Feierlichkeiten mit Orgelspiel und Chorgesang erlebte, war ich in richtiger Weihnachtsstimmung.

Auf dem Heimweg malte ich mir aus, dass nun auch zu mir das Christkindl kommen werde, so wie ich es vom Elternhaus in Erinnerung hatte. Aber nichts war zu sehen. Kein Weihnachtsbaum, kein Gabenteller, nichts, gar nichts. Nur die Mettensuppe stand auf dem Tisch. Nach der hatte ich jetzt keinen Appetit. Ich ging schlafen, mit der Hoffnung, hier wird das Christkindl morgen kommen. Aber da tat sich auch nichts.

Zur Feier des Tages gab es eine Kaffeesuppe wie man mir sagte und statt dem Hausbrot einen Hefenzopf. Da habe ich meine letzte Hoffnung aufgegeben. Ich fragte die Großmutter, ob hier kein Christkindl komme. Die Antwort bekam ich von der Tante. Sie sagte: Du brauchst eine Hose, die bekommst Du von mir zu Lichtmeß wenn Markt ist in Reisbach. Von Deiner Mutter hast Du auch nichts bekommen. Darauf meinte ich, ich wollte ja nur einen Christbaum. Die Großmutter ging mit mir darauf in den Wald einen Baum zu holen. Einen ganz kleinen, den sie unter ihrer Schürze verstecken konnte, damit uns damit niemand sieht, weil uns der Wald nicht gehörte. Sie hat mir dann geholfen das Bäumchen zu schmücken. Die Tante hat dazu noch buntes Papier gestiftet. Damit war für mich die Welt wieder in Ordnung. Nach einigen Tagen ist auch ein Päckchen von meiner Mutter, mit ein Paar Handschuhen und Weihnachtsbäckereien angekommen.

Zu Lichtmeß, im Februar, ging die Tante mit mir zum Markt um die versprochene Hose zu kaufen. Aber Christkindl war das für mich keines. Ich habe mich auch nicht gefreut und werde dieses Weihnachten so lange ich lebe nicht vergessen. Es war das Jahr 1913. 1914 war Weihnachten durch den Krieg getrübt und die folgenden auch. Erst im Jahr 1925 als auch die totale Geldentwertung war, wo wir für eine Billion eine Reichsmark bekamen, konnten wir wieder richtige Weihnachten feiern.

Meine Not in dieser Einöde hörte erst auf, als mein Vater nach zwei Jahren auf Besuch kam, und sah in was für einen katastrophalen Zustand ich mich befand. Meine Verletzung an meinem Daumen entwickelte sich zu einer großen Wunde. Damit mich die Tante nicht schimpfen konnte, umwickelte ich diesen und schwächte ab, dass es nur eine Kleinigkeit sei und arbeitete, wenn ich nicht in der Schule war, weiter. Mein Vater befürchtete eine Blutvergiftung und nahm mich sofort mit nach Hause. Nur zuhause war ich auch nicht daheim. Wo war nur mein Daheim? Ich fühlte mich als Fremder, nirgendwo daheim. Vermisste jetzt ein eignes Bett, sah keinen Sonnenschein, keinen Wald und keine Wiesen und keine Bächlein mehr fließen. Gar nichts gehörte mir. Ich war heimatlos geworden. Die Einschulung war jetzt genauso schwierig wie in der Schule im Bayerischen Wald. Das Leben wurde erst lebenswert als ich selbst später Geld verdiente.

Meine Versetzung in eine Landschule und wieder zurück, in der Zeit zwischen meinem 6. und 8. Lebensjahr war bestimmend für mich, ebenso die Kriegsjahre 1914/18. Da war die Schule nicht so wichtig, wie der Wille zu siegen. Die Versorgungsnot verlangte auch schon die Mithilfe der Jugend. Mit der Monarchie fing meine Jugendzeit an. Für mich war der Schulanfang zugleich eine Trennung vom Elternhaus. Die Heimkehr nach 2 Jahren war mit dem Beginn des 1. Weltkrieges verbunden. Für mich hörten damit die Kindheitsträume auf. Als ich also nachhause kam war ich acht Jahre und der 1. Weltkrieg begann und nahm mir auch noch die Jugendzeit.